Wie Selbstorganisation unser persönliches Wachstum fördert und fordert – und warum das für die nachhaltige Transformation unerlässlich ist.

Nicola Koch und Sven Latzel – zwei sustainable natives im Gespräch

Nicola: Wie hängen Selbstorganisation und Nachhaltigkeit – zwei sehr komplexe Themenfelder – für dich zusammen?

Sven: Es gibt mehrere Aspekte. Wenn man sich die Effekte von selbstorganisierten Organisationen anschaut, zeigt sich, dass besser-informierte Entscheidungen getroffen werden. Es werden nämlich Entscheidungen eher von Menschen getroffen, die selber von den Entscheidungen betroffen sind und somit eine bessere Einschätzung der Realität haben. Dadurch wird weniger “Müll” produziert: Müll in Form von Zeitverschwendung, aber vor allem Müll in Hinsicht auf Ressourcenverlust durch Fehlentscheidung (z.B. Überproduktion). Das Thema Kontrolle ist ein weiterer Aspekt. Es ist sehr zeit- und kostenaufwendig top-down zu kontrollieren, ob alle MitarbeiterInnen ihre Arbeit machen und die Regeln einhalten. Tatsächlich ist die Kontrolle von oben in einer Organisation jedoch notwendig, wenn die Kultur nur auf Zwang, Regeln und Prozesse basiert und die Menschen bislang keine Fähigkeiten zur Selbstorganisation erlernt haben. Es geht daher darum, Menschen gezielt zu befähigen ihrer Verantwortung gerecht zu werden und ihnen den Sinn ihrer Arbeit bewusst zu machen. Wird dieses Investment in das persönliche Wachstum der MitarbeiterInnen getätigt, stehen mittelfristig ein signifikant niedriger Kontrollaufwand und eine höhere Mitarbeiterzufriedenheit in Aussicht. Zudem fördert Selbstorganisation und agiles Management durch direktere Feedbackprozesse und kürzere Iterationszyklen deutlich die Innovationskraft – siehe zum Beispiel Booking.com. Das Unternehmen war oder ist noch durch agiles und selbstorganisiertes Arbeiten einer der innovativsten Player in der E-Commerce Branche. Da wir wissen, dass wir ein Vielfaches an Innovationskraft brauchen, um die nachhaltige Transformation der Wirtschaft noch rechtzeitig zu bewältigen, sehe ich hier einen weiteren Zusammenhang zwischen Selbstorganisation und Nachhaltigkeit.

Hast du ein Beispiel aus deiner Beratungserfahrung, inwiefern die Transformation von einer hierarchischen hin zu einer selbstorganisierten Organisationsform zu besseren Entscheidungen geführt hat?

Ich habe kein eigenes Beispiel für eine vollständige Transformation, aber Erfahrungen mit einem hierarchisch-organisierten E-Commerce Unternehmen. Hier wurde ohne die Beteiligung der betroffenen MitarbeiterInnen die Fusion mit einem Unternehmen entschieden, welches gerade eine völlig andere Organisationsform entwickelt hatte. Der Fusionsprozess hat sich daher als sehr kostspielig und ineffizient herausgestellt. Wären die betroffenen Stellen besser in die Entscheidungen eingebunden gewesen, wären viele Fehlentscheidungen vermieden worden – so meine Überzeugung.


Stimmt es, dass die gleichberechtigte Mitbestimmung aller Mitglieder eines Teams – wie zum Beispiel in der Soziokratie – zu einem höheren Verständnis und tieferen Pflichtgefühl für eine getroffene Entscheidung führt?

Ja, das entspricht meiner Erfahrung und der einschlägigen Literatur. Zwar kann ich persönlich nicht von der Transformation ganzer Unternehmen berichten, jedoch von einzelnen Teams. Es macht einen großen Unterschied, ob in einer Gruppe einer oder einige wenige sagen, wie es läuft oder ob es eine klare Aufgaben- und Machtverteilung gibt, wo jedes Gruppenmitglied in seinem Einflussbereich die Entscheidungen trifft. Das heißt nicht, dass es keine Struktur gibt oder kein übergeordnetes Ziel, auf das zu gearbeitet wird. Es bedeutet vielmehr, dass durch angepasste Prozesse, Regeln und die Verteilung von Autorität, Menschen ermächtigt werden Verantwortung für ihre Rolle zu übernehmen.

Was passiert, wenn zwischen zwei Rollen bezüglich des Machtbereiches ein Konflikt entsteht?

In diesem Fall sollte die Person die Spannung transparent ansprechen, ihre Beobachtung schildern und ihren Bedarf, was notwendig ist, darlegt, um ihrer Verantwortung wieder gerecht werden zu können. Am Ende sollte ein gemeinsamer Vorschlag erarbeitet werden. Selbstorganisation bedeutet also in erster Linie, den einzelnen Menschen sich mehr selbst organisieren zu lassen. Hierfür ist jedoch elementar wichtig Spannungen und Konflikte transparent anzusprechen – wohl die größte kulturelle Herausforderung, wie ich denke. Ein Großteil der Menschen ist nämlich gewohnt, dass einzelne Verantwortung übernehmen, bei denen wir dann Verantwortung abladen und denen wir Schuld zuweisen können. Zudem sind viele Menschen gewohnt, durch Zwang und Strafe geführt zu werden. Für die Selbstorganisation ist jedoch die Übernahme von Verantwortung eines jeden Einzelnen eine notwendige Bedingung. Die gute Nachricht: Der Weg hin zu einem selbstbestimmteren und selbstorganisierteren Arbeiten kann erlernt werden. Ich bin auf Grundlage meiner Erfahrungen davon überzeugt, dass nach einem solchen Lernprozess die Zufriedenheit in der Gruppe erheblich steigt, da der Arbeitsalltag deutlich vielfältiger und damit geistig gesünder wird.

Das kultureller Wandel in Unternehmen die wichtigste und gleichzeitig schwierigste Herausforderung für die nachhaltige Transformation ist, ergab auch unsere globale Nachhaltigkeitsstudie, die wir mit unseren Partnern Ende 2018 veröffentlicht haben. Neben Eigenverantwortung und Transparenz, welche anderen kulturellen Fähigkeiten müssen für eine erfolgreiche Selbstorganisation erlernt werden?

Die Werkzeuge müssen bekannt sein. Ein gut funktionierendes Wissensmanagement ist aufgrund der dezentralen Entscheidungsfindung für Selbstorganisation eine sehr wichtige Komponente. Kritische Selbstreflektion und der Mut die eigene Meinung preiszugeben, sind zudem zwei notwendige zwischenmenschliche Fähigkeiten. Meiner Meinung nach ist die Frage zentral, wie ich mit mir selbst umgehe. Je mehr Verantwortung ich übernehme, desto mehr Reife brauche ich als Mensch. Eine Organisationskultur sollte immer gezielt das persönliche Wachstum des Einzelnen fördern.

Wir haben verstanden, dass der kulturelle Wandel in Organisationen wesentlich für das Gelingen der nachhaltigen Transformation ist. Ich denke daher, dass persönliches Wachstum und Fähigkeiten wie Verantwortungsbereitschaft und Reflexivität zentrale Determinanten für die nachhaltige Entwicklung unserer Gesellschaft sind. Wie siehst du das?

Ich stimme dem absolut zu. Ich beschäftige mich daher mit der Frage, wie wir genau das in Unternehmen hinbekommen können. Neue Fähigkeiten zur besseren Selbstwahrnehmung wie Meditation oder Yoga werden noch zu sehr als funktionale Selbstoptimierung genutzt, um bspw. stressresilienter zu werden. Für mich und alle, die im besagten Sinne Organisationen für die nachhaltige Transformation fit machen wollen, stellt sich daher die große Frage, wie persönliches Wachstum gefördert werden kann, welches nicht direkt auf klassische Produktivität einzahlt. Die Selbstorganisation hat hierauf eine Antwort, indem sie durch veränderte Arbeitsprozesse den notwendigen Raum für persönliches Wachstum schafft, während die Organisation als Ganzes an Effizienz gewinnt. Die Entscheidung ein Unternehmen selbstorganisiert auszurichten, kann schließlich auch eine gezielte Maßnahme sein, um das persönliche Wachstum der eigenen Mitarbeiter zu aktivieren.

Nicola Stefan Koch


Nicola Stefan Koch ist Berater bei sustainable natives sowie Mitgründer und Managing Director des internationalen Think-and-do Tanks Generation Why. Nicola lädt ein, ko-kreativ Lösungen zur Erreichung der SDGs zu entwickeln. In seiner Beratungstätigkeit ist er auf strategisches Management, Performancebewertung und Social Impact Innovation fokusiert.

Sven Latzel

Sven Latzel ist selbständiger Organisations- und IT-Berater und Soziokratie-Experte. Er ist ein sustainable native und Gründer sowie Inhaber der Nürnberger Organisations-Beratung Soziokratie.BIZ und der IT Beratung KODE7.